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MOMA 4.99 – REDAKTIONSGESPR?H

T?ze auf zwei Hochzeiten

Zur grundlegenden ?derung der Arbeitsverh?tnisse

MOMA hat im November 1997 eine Nummer produziert mit dem Thema "Die da oben". Wir gingen der Frage nach: Wie sieht das B?gertum aus, was hat sich ver?dert, gibt es das B?gertum ?erhaupt noch. Wir widmen uns jetzt denen da unten, denn auch dort hat sich durch die Umstrukturierungen des Arbeitsmarktes zum Beispiel, der neuen Armut und den working poor einiges ver?dert. Corinne Sch?er von der Gewerkschaft unia und Carlo Kn?fel von der Caritas Schweiz haben zu diesem Thema im MOMA-Redaktionsgespr?h zusammengefunden, die Fragen gestellt haben Franz Horv?h und G?te.

Seit ?er zehn Jahren findet eine Diskussion ?er die "neue Armut" statt, neuerdings auch ?er die working poor. Was sind eure wichtigsten drei Stichworte in diesem Zusammenhang?

Corinne Sch?er: Erstes Stichwort: L?ne. In der Schweiz gibt es einige Sektoren, in denen es nicht existenzsichernde, extrem tiefe L?ne unter 3000 Franken gibt. Zweites Stichwort: Mangelnde soziale Absicherung. Mittlerweile ist zum Beispiel Mutterschaft oder Krankheit zu einem Armutsrisiko geworden. Drittes Stichwort: Prek?e Arbeitsverh?tnisse. Damit sind Arbeitsverh?tnisse gemeint, die keinen sicheren Lohn, keine klaren Arbeitszeiten und auch keine soziale Absicherung gew?rleisten. Am meisten verbreitet und am st?ksten zugenommen hat hier sicher die Arbeit auf Abruf. Diese drei Faktoren haben meiner Meinung nach dazu beigetragen, dass die Zahl der working poor in der Schweiz in den letzten Jahren stark gestiegen ist. Allerdings gab es schon immer working poor, insbesondere in traditionellen Frauenberufe – meist in den Sektoren, in denen ich als Gewerkschaftssekret?in t?ig bin, d.h. imVerkauf, im Gastgewerbe, in der Reinigung und teilweise in Pflegeberufen.

 Carlo Kn?fel: Ich vertrete auch die Ansicht, dass die Armutsproblematik nicht erst in den letzten zehn Jahren entstanden ist, sondern sich in dieser Zeit akzentuiert hat. Sp?estens seit Mitte der Siebzigerjahre sind wir in einem grundlegenden gesellschaftlichen Strukturwandel, der in den Neunzigerjahren durch die konjunkturelle Entwicklung nur sichtbarer geworden ist. Das m?hte ich mit drei Hinweisen deutlich machen. Zum ersten sind heute ca. 80 Prozent der Erwerbst?igen direkt oder indirekt im Dienstleistungssektor besch?tigt. Nicht nur in Banken oder Versicherungen, sondern auch im Gastgewerbe, in Reinigungsdiensten usw. Die Gewerkschaften haben grosse M?e, diesen Strukturwandel nachzuvollziehen. Die traditionell starke Position im Produktionssektor konnte bisher nicht auf den Dienstleistungssektor ?ertragen werden. Eine Folge davon sind fehlende oder ungen?ende Gesamtarbeitsvertr?e in manchen Dienstleistungsbranchen. Das ungleiche Machtverh?tnis wird dann von den Arbeitgebern entsprechend ausgenutzt. Einen zweiten Aspekt sehe ich in der Globalisierung. In diesem Prozess haben die Unternehmen begonnen, Standorte gegeneinander auszuspielen. Das muss nicht einmal zwischen Hochlohn - und Niedrig- oder Billiglohnl?dern stattfinden – es findet sich auch innerhalb Europas. Lokal oder regionalisierte Arbeiterschaften werden im Zusammenhang mit Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt gegeneinander ausgespielt, ob das jetzt Minimall?ne seien oder H?hstarbeitszeiten, Ferienanspr?he usw. Zur Illustration eine Anekdote: in Ulrich Becks Buch "Was ist Globalisierung?" wartet der Autor abends um 9 Uhr im Flughafen Tegel, Berlin, auf einen Flug nach Hamburg. Die Sprecherin, die die Durchsage macht, sitzt aber nicht im Flughafen, sondern online in Kalifornien. Zu dieser Zeit werden dort keine Sp?schichtzulagen bezahlt, auch ist die Bezahlung gemessen an deutschen Standards tiefer in Kalifornien. Damit komme ich auch zum dritten Punkt: Die Auswirkungen der dritten technologischen Revolution (Informatik, Kommunikation, Automatisation). Sie haben die Arbeitsverh?tnisse radikal ver?dert und damit auch die Anforderungen, die an solche Arbeit gestellt werden. Die Menschen, die dieses rasende Tempo nicht mithalten k?nen, werden zuerst arbeitslos und ausgesteuert werden, dann irgendwie wieder reintegriert; das dann meist in prek?en Arbeitsmarktsegmenten, die ihren F?igkeiten auch oft nicht entsprechen, wie Arbeit auf Abruf, tempor?er Arbeit, unfreiwilliger Teilzeitarbeit. Damit geht auch ein Abbau an sozialer Sicherheit einher.

Ein wichtiger Knackpunkt sind sicher die tiefen L?ne, vor allem im Dienstleistungssektor. Wo m?ste man ansetzen, um unsichere Arbeitsverh?tnisse wieder sicherer zu machen, tiefe L?ne zu erh?en?

Sch?er: Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) hat mit seiner Kampagne "keine L?ne unter 3000 Franken" einen Anfang gemacht. Damit wird im Bereich der Aufkl?ung ein erster und wichtiger Schritt gemacht. Diese Kampagne kann dazu f?ren, dass zumindest in der Bev?kerung das Bewusstsein um das Vorhandensein tiefer L?ne, auch in der Schweiz, steigt. Als Gewerkschaftssekret?in mache ich immer wieder die Erfahrung, dass die Mehrheit der Leute gar nicht weiss, dass die Arbeitsbedingungen vieler ArbeitnehmerInnen auch in der Schweiz schlecht sind. Ich selber war bei Arbeitsantritt bei der unia vor zweieinhalb Jahren ebenfalls ?errascht, dass es im Verkauf normal ist zu einem Stundenlohn von 13 Franken zu arbeiten. Die Aufkl?ungskampagne des SGB kann aber nur ein erster Schritt sein. Die Gewerkschaften m?sen darauf hinarbeiten, in vertragslosen Branchen Gesamtarbeitsvertr?e abzuschliessen. Besonders im Dienstleistungssektor gibt es sehr wenige Vertr?e, jedoch schlechte Arbeitsbedingungen. Ziel muss es sein, dass jeder erwerbst?ige Mensch einen existenzsichernden Lohn erh?t. Ein anderes Mittel hierzu ist die Einf?rung eines gesetzlichen Mindestlohnes. Entscheidend ist jedoch die H?e eines Mindestlohnes. Das politische Risiko besteht, dass mit einer b?gerlichen Parlamentsmehrheit ein sehr tiefer Mindestlohn festgesetzt wird, der dann tiefe L?ne generell sanktioniert. Wir kennen negative Beispiele aus den angels?hsischen L?dern, beispielsweise aus den USA, in der ein Mindestlohn von nur f?f Dollar gilt. Gegen den Mindestlohn wird oft ins Feld gef?rt, dass er die branchenspezifischen Verh?tnisse nur ungen?end ber?ksichtigt. Branchenspezifische Faktoren k?nen jedoch jederzeit in GAV-Verhandlungen ber?ksichtigt und geregelt werden. Ein gesetzlicher Mindestlohn w?de nur subsidi? zu Gesamtarbeitsvertr?en wirken, d.h. gibt es in einer Branche keinen GAV, dann gilt der Mindestlohn.

Mit den L?nen ist es aber bei weitem noch nicht getan. Hier greift die Kampagne des SGB noch zu kurz. Es braucht unbedingt eine Verquickung mit den zunehmenden prek?en Arbeitsverh?tnissen.

 Kn?fel: In der ganzen Debatte gibt es ein fundamentales Dilemma zwischen arbeitsmarktpolitischen Forderungen, die gestellt werden m?sen, und den notwendigen sozialpolitischen Massnahmen f? diejenigen, die nicht auf solche Verbesserungen im Arbeitsmarkt warten k?nen. Gerade Caritas Schweiz befindet sich damit auch in einem gewissen Zwiespalt, dessen sind wir uns wohl bewusst. Je mehr wir die Sozialpolitik betonen, desto mehr relativieren wir die Arbeitsmarktpolitik und entlassen damit die Arbeitgeberseite aus ihrer Verantwortung.

Dies als Vorbemerkung. Zum Lohn m?hte ich bemerken: Selbst ein Lohn von 3000 Franken ist nur sehr begrenzt existenzsichernd. Eine Person kann damit plus/minus ?er die Runden kommen, aber eine Familie kann damit schlicht nicht existieren, vor allem die traditonellen Familien, in denen nur der Mann erwerbst?ig ist. Also selbst bei einem Minimallohn von 3000 Franken kommen wir um sozialpolitische Transferzahlungen an die meisten Haushalte nicht herum. Wie ist das am effizientesten machbar? In der Schweiz haben wir faktisch einen Kombilohn. Die Sozialhilfe gleicht auf der Basis der Richtlinien, die von der SKOS (Schweizerische Konferenz f? Sozialhilfe) herausgegeben werden, die Differenz zwischen Lohn und bedarforientiertem Mindesteinkommen aus. Wer sich nun etwas auskennt, weiss, dass die F?sorge kantonal geregelt, aber kommunal vollzogen und finanziert wird. Das f?rt nun zu einer absurden Situation. Wir haben ein globales Strukturproblem, das durch kommunale Massnahmen aufgefangen werden soll. In der Caritas sind wir dezidiert der Ansicht, dass die Sozialhilfe, wie sie heute organisiert ist, das denkbar ungeeignetste Mittel ist, um diese Situation zu bew?tigen. Wir haben darum zwei sozialpolitische Vorschl?e neu eingebracht. Erstens m?ste man f? die Gruppe der working poor auf das System der Erg?zungsleistungen umsteigen, analog der AHV/IV. Wir kommen aus zwei Gr?den darauf. Es handelt sich um eine nationale Einrichtung mit gleichen Ans?zen f? die ganze Schweiz im Gegensatz zu den SKOS-Richtlinien, die alles andere als gleich ausgerichtet werden. Zum zweiten geh?en unserer Ansicht nach die working poor nicht unter die Fittiche der Sozialhilfe. Ihr Hauptproblem ist unserer Ansicht nach, dass sie zu wenig Einkommen haben, aber ansonsten sind sie integriert, sie haben Arbeit und leben in der Gesellschaft. Mit ihrer Neuzuteilung w?de zudem die Sozialhilfe entlastet. Eine zweite M?lichkeit besteht in der klaren Erh?ung der Kinderzulagen. Es zeigt sich immer wieder, auch in unserer Studie zu den working poor,* dass in zwei Drittel aller working poor-Haushalte Kinder leben. Das Risiko f? einen Haushalt, zu den working poor zu geh?en, ist doppelt so hoch, wenn Kinder in diesem Haushalt leben. Mit einer relativ grossz?igen, national ausgestalteten Kinderzulage k?nte man die Situation dieser Haushalte wesentlich verbessern.

 Sch?er: Nat?lich sind 3000 Franken zu wenig, wenn nur der Mann in einer Familie arbeitet, d.h. wenn wir vom klassischen Ern?rerlohn ausgehen. In dem Segment, f? das die unia zust?dig ist, arbeiten meist beide Verantwortliche eines Haushaltes. Ich bin aber nicht mit deiner Annahme einverstanden, dass die Menschen in der Schweiz nicht genug verdienen k?nen und daher auf Erg?zungsleistungen angewiesen sind. Ich gehe davon aus, dass existenzsichernde L?ne zahlbar sind. Die H?e der L?ne ist eine Frage des Kr?teverh?tnisses, den Gewerkschaften muss es gelingen existenzsichernde L?ne zu erk?pfen. Im Gastgewerbe wurde eben – ohne Beteiligung der unia – ein neuer GAV abgeschlossen, der die Mindestl?ne auf 2350 Franken festlegt. Dieser Mindestlohn ist eindeutig zu niedrig. Aber auch im Verkauf verdienen viele Frauen unter 3000.-Franken, beispielsweise auch bei der Migros trotz GAV. Es wird sich zeigen, ob die neu gegr?dete Gewerkschaft unia hier wesentliche Verbesserungen erzielen kann. Gelingt es uns, die tiefen L?ne sukzessive anzuheben, dann m?sten wir – zumindest bei der erwerbst?igen Bev?kerung – nicht auf die Erg?zungsleistungen ausweichen, um die neue Armut zu bek?pfen. Hier sehe ich n?lich eine grosse Gefahr. Werden tiefe L?ne systematisch mit Erg?zungsleistungen aufgestockt, dann werden sich dies Arbeitgeber zunutze machen und keine ausreichenden L?ne mehr bezahlen. Dies untergr?t unser System der sozialen Absicherung, das Ungleichheiten wettmachen, aber nicht Unternehmen zu mehr Profiten verhelfen soll.

 Kn?fel: Zwei Punkte dazu. Triponez, Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands hat im Fernsehen gesagt, wer Probleme mit dem Lohn hat, der kann ja zur Sozialhilfe gehen. Die kommunal vollzogene Sozialhilfe ist auch stark politisch unter Druck. Die Richtlinien der SKOS werden auf kommunaler Ebene zusammengestrichen, wo immer m?lich. Dann m?sen wir auch diskutieren, von welchem Familienmodell wir in der Schweiz ausgehen wollen; bei deinem Modell w?e das ein Besch?tigungsgrad von 150, 180, 200 Prozent f? eine Familie. Viele Frauen werden aber damit gerade in ein prek?es Arbeitssegment hineingezwungen, damit die Rechnung dann aufgeht. Im Moment haben wir in der Schweiz noch nicht mal minimale flankierende Massnahmen wie Kinderkrippen usw. Ich melde hier daher Bedenken an, ob das mit diesen Vorgaben funktioniert.

 Sch?er: Ich m?hte ja nicht das Familienmodell vorschreiben. Jeder soll einfach ein existenzsicherndes Einkommen erhalten und sich dann sein Familienmodell selber w?len. Womit ich aber klar einverstanden bin, das ist das System der staatlich Kinderrenten. Franziska Teuscher hat dies auch in einer parlamentarischen Initiative eingefordert.

Die Gewerkschaften haben sich offenbar zu lange auf die Arbeiter in den traditionellen Sektoren konzentriert. Wie k?nen die Gewerkschaften Glaubw?digkeit zur?kgewinnen auf den brachliegenden, heterogeneren Sektoren?

Kn?fel: Ich sehe bei den Gewerkschaften ein dreifaches Problem, ohne ihnen den schwarzen Peter zuschieben zu wollen. Ein Problem habe ich angesprochen, der Strukturwandel vom Industrie- in den Dienstleistungssektor. Ein zweites Problem ist die Konzentriertheit der Gewerkschaften auf die Bed?fnisse des Schweizer Mannes; in einer zweiten Runde kamen dann die ausl?dischen M?ner dran, jetzt, am Schluss, die Frauen. Hier wurde einiges verpasst. Ein drittes Problem ist die Internationalisierung der Gewerkschaftspolitik. Wenn wir die Arbeitsmarktpolitik nur national angehen, werden wir scheitern, egal, ob wir einen Organsationsgrad von 89 Prozent im Dienstleistungssektor haben oder nicht. Die Internationalisierung der Wirtschaft l?t auf dem Arbeitsmarkt eine Dynamik aus, die zur Deregulierung zwingt, wenn es nicht gelingt, Gegenmassnahmen auf internationaler Ebene zu ergreifen.

Sch?er: Damit bin ich einverstanden. Ich m?hte noch einmal die Problematik der Frauenarbeitspl?ze anschneiden. Die Arbeitnehmerinnen wurden von den Gewerkschaften sehr lange weitgehend ignoriert oder sogar diskriminiert. Dies hat auch eine gewisse historische Logik, denn die Gewerkschaften haben sich in M?nerbranchen verankert und die Frauen ausgegrenzt. Ich denke, hier findet ein Umdenken statt. Gerade im Dienstleistungssektor, besonders im Bereich Gastgewerbe und Verkauf, wird es ausschlaggebend sein, wie weit die Gewerkschaften die Anliegen der Frauen ernst nehmen und sich f? diese einsetzen. Dazu geh?en gerade die prek?en Arbeitsverh?tnisse und die viel zu tiefen L?ne. Neben der Forderung nach einer Erh?ung der L?ne muss Lohngleichheit zu einer zentralen gewerkschaftlichen Forderung werden. Nur so wird es gelingen, die Frauen gewerkschaftlich zu interessieren, organisieren und zu einer gewerkschaftlichen und politischen Kraft zu machen. Es braucht dazu ein grosses Umdenken. Frauen arbeiten anders, zum Beispiel Teilzeit, sie organisieren sich anders und sie haben nicht die gleichen Forderungen wie M?ner. Um hier vorw?ts zu kommen, braucht es auch in den leitenden Gremien der Gewerkschaften Frauen; die Frauen sind hier immer noch krass untervertreten.

Wir m?sen also in Kampagnen auch auf die unzumutbaren Arbeitsformen von Frauen aufmerksam machen. Bei unserer Kampagne gegen Arbeit auf Abruf hat die unia dies versucht. Dies war ein erster Schritt, den Frauen zu zeigen, dass wir zum Ziel haben, ihre Situation zu verbessern. Im Verkauf konnten wir uns bereits ein St?k weit verankern. Wir signalisieren mit der Lohnkampagne, dass wir das Problem der L?ne erkannt haben, ein n?hster Schritt ist die Absicherung von Teilzeitarbeit und generell diesoziale Absicherung, beispielsweise der Mutterschaft.

W?e es f? die Gewerkschaften nicht auch wichtig, mit anderen Klientelen B?dnisse zu schmieden, ich denke neben der Arbeiterschaft oder den neuen Armen beispielsweise an den "verschwundenen", den "neuen Mittelstand"?

Kn?fel: Der Gewerbeverband hat ja den Verdacht ausgesprochen, die Caritas und der SGB h?ten hinsichtlich des Mindestlohnes einen Deal gemacht. Der SGB lancierte das Thema am Sonntag, wir publizierten unsere Studie am Mittwoch darauf, zwei Wochen sp?er schob der SGB seine Forderungen nach. Wir waren aber im Gegenteil etwas erschrocken, dass der SGB das Thema am Sonntag schon gebracht hat. Trotzdem scheint mir, dass seit der Publikation sehr viel offensiver ?er die M?lichkeit von strategischen Allianzen ?er die Gewerkschaftsgrenzen hinaus in den Sektor der Nichtregierungsorganisationen hinein diskutiert worden ist. Wir von der Caritas haben hier auch Hand geboten. An der Caritas-Tagung habe ich selbst die Frage der Gewerkschaftsorganisation angeschnitten, und nicht die anwesende Gewerkschaftsvertreterin selbst. Gewisse Ber?rungs?gste, gewisse strukturelle Nichtbeachtungen wurden damit etwas abgebaut. Ich sehe in diesem breiteren Denken eine positive Entwicklung.

Deuten wir noch einige Fragen an: Welche politische Bedeutung hat denn die neue Armut? Ist Lohnarbeit nicht Teil des Problems statt Teil der L?ung? Gibt es denn gerechte L?ne bei einer zunehmenden Eingrenzung der notwendigen Arbeitszeit bei der G?erproduktion? Und ist sie nicht auch qualifikationsabh?gig, im Sinn, dass auch ETH-Abg?ger nicht unbedingt eine Arbeit finden?

Sch?er: Zur politischen Bedeutung ein paar Bemerkungen. Die vom SGB in Auftrag gegebene Studie von Professor Yves Fl?kiger kommt zum Befund, dass ein unerwartet hoher Anteil von 12 Prozent der Erwerbst?igen unter 2800 Franken verdienen. Die Studie zeigt auch, dass diese Zahl zugenommen hat und dass es eine Abnahme des Mittelstandes gibt. Weiter wissen wir, dass ungef?r ein Drittel der Berufst?igen im Verkauf auf Abruf arbeitet. W?rend dies fr?er nur in Einzelf?len vorkam und auf Freiwilligkeit beruhte, wird diese Arbeitsform heute systematisch zu Optimierungs- und Profitzwecken eingef?rt. Je mehr working poor es gibt, desto st?ker wird der Kostendruck auf die Sozialversicherungen zunehmen. Dieser Druck f?rt zu Forderungen der B?gerlichen nach Abbau des Sozialstaates oder nach einem Umbau unseres Sozialversicherungssystems – einem Ansatz der bis in linke und gr?e Kreise Anh?gerInnen findet. Dies ist h?hst problematisch und erfordert, dass wir L?ungen finden, die prim? die Ursachen der neuen Armut bek?pfen und nicht deren Folgen.

Zur Rolle der Qualifikation: Nat?lich k?nen auch Leute mit akademischem Abschluss in die Armut abgleiten. Jedoch handelt es sich hier meistens um eine vor?ergehende Entwicklung, die mit einem momentanen Mangel an Arbeitspl?zen zusammenh?gt.

 Kn?fel: Man k?nte jetzt den Eindruck gewinnen mit diesen Beispielen aus Gastgewerbe und Verkauf, es handle sich dabei um ein nationales, hausgemachtes Problem, das mit der Globalisierung nichts zu tun hat. Es gibt aber auch andere Beispiele, zum Beispiel das Reinigungsgewerbe. Dazu geh?t das Stichwort Outsourcing. Das Reinigungsgewerbe wird zunehmend privat organisiert, die Reinigungsequipen sind nicht mehr Angestellte der Firmen, sondern es werden ?derungsvertr?e gemacht. Den Putzleuten wird dann von einer spezialiserten Reinigungsfirma derselbe Job angeboten, einfach mit einem deutlich tieferen Lohn. Das h?gt mit schlanken Strukturen usw. zusammen, real ist es aber die Reaktion auf die aktuellen Machtverh?tnisse in der Sozialpartnerschaft.

 Andreas Rieger: Ich habe bei der Kampagne des SGB "Keine L?ne unter 3000" mitgearbeitet. Ausl?er dazu war die bisherige Tabuisierung der L?ne. In verschiedenen Sektoren hat man am gr?en Tisch verhandelt. In der Armutsdiskussion sieht es ?nlich aus. Auch hier gibt es eine Sektoralisierung. Wir hatten die Altersarmut, die neue Armut, Frauenarmut, Armut der Haushalte mit Kindern. Man soll uns jetzt nicht darauf behaften, ob 3000 Franken gerecht sein sollen oder ob sie die neue SKOS-Richtlinie sein sollen. Das ist einfach eine runde Zahl. Wir fordern einfach, dass keine L?ne unter dieser Zahl ausgerichtet werden, damit ist nicht gesagt, dass an mit 3400 anst?dig leben kann. Es handelt sich bei der 3000 Franken-Limite um eine eigentliche ?htung, das gesagt wird, das kann doch nicht sein. Viele Leute wissen auch gar nicht, dass es solche tiefen L?ne gibt. Das gibt eine gewisse Dynamik in der gesellschaftlichen Diskussion. Damit kann politisch gearbeitet werden, mit solchen griffigen und einfachen Forderungen l?st sich etwas erreichen. Aber ein theoretischer Anspruch auf Existenzminimum oder Gerechtigkeit oder ?nlich steht nicht dahinter, wir wollen damit eine Diskussion in Gang bringen.

Eine weitere Frage ist, was wir ?erhaupt politisieren. Die Caritas sagt, der Gang zur Sozialhilfe ist entw?digend. Wir politisieren das, indem wir einen Rechtsanspruch auf eine Erg?zungsleistung (EL) auch f? Erwerbst?ige formulieren. Ich bin der Ansicht, dass das ein falscher Ansatz ist. Damit gibt man etwas Zentrales auf: Es muss gegen?er dem Arbeitgeber einen Anspruch darauf geben, dass eine Person, die arbeitet, von ihrem Lohn anst?dig leben kann. Dabei sind die Kinder noch ausgeklammert. Wenn wir jetzt neben Krankheit, Unfall usw. auch noch Transferzahlungen f? die allzu niedrigen L?ne ?er EL ausrichten m?sen, kommt der Sozialstaat an den Anschlag. Wir kommen hier in eine wirtschaftsethische Dimension.

Professor Thomas Geyser hat in unserem Auftrag ?er Arbeit auf Abruf gearbeitet. Auf die Frage, ob der Arbeitgeber das Risiko, dass es einen Tag keine Arbeit gibt, auf den Arbeitnehmer abw?zen kann, sagt er, dass dieses Risiko nicht abw?zbar ist. In dieser Frage haben wir jetzt auch teilweise vom Bundesgericht Recht bekommen. Im Sinne der ?fentlichen Ordnung formuliert Geyser auch, dass es einen Rechtsanspruch auf einen anst?digen Lohn f? eine Arbeit geben muss. Denn der Arbeitgeber okkupiert eine Person, und trotzdem muss die Gesellschaft noch f? sie aufkommen. Mit einem – in anderen Bereichen sehr positiven – Anspruch auf EL entl?st man die Arbeitgeber aus der Pflicht, anst?dige L?ne zu bezahlen.

 Kn?fel: Unter dem Stichwort strategische Allianzen bin ich nat?lich daf?, dass wir uns nicht auseinander dividieren, indem wir sagen, ihr habt die bessere Strategie und wir die schlechtere. In unserer Studie haben wir klar festgehalten, dass die Debatte ?er den Mindestlohn enttabuisiert werden muss. Die Untersuchung zeigt aber, dass die SKOS-Richtlinien so etwas wie einen impliziten Mindestlohn darstellen. Der Anspruch nach diesen Richtlinien ist f? eine Person 1100 Franken, plus die Miete plus die Krankenkassenpr?ien, so weit sie nicht verbilligt worden sind. Wir sind f? eine Mindestlohndebatte und unterst?zen die SGB-Kampagne, so weit wir dies aus unserer Position k?nen. Wir anerkennen diese Position, aber sie hat nur insofern G?tigkeit, wenn man sie von der einzelnen Person aus definiert. Sobald wir aber bei den Haushalten ankommen, wird es schwierig, denn dort reicht diese Strategie nicht aus. Deshalb bin ich der Ansicht, dass wir eine vern?ftige Kombination dieser arbeitssmarkt- und sozialpolitischen Strategien anstreben m?sen, ob dies nun ?er EL laufen soll, dar?er k?nen wir diskutieren. Eure Forderung ist notwendig, aber nicht hinreichend, genauso, wie die Konzentration auf die sozialpolitischen Forderungen auch.

Sie werden weder von GAV-Verhandlungen noch von Mindestlohndebatten erfasst. M?ste es hier nicht einen Existenzlohn aufgrund der Erkenntnis geben, dass es gar nicht mehr genug Arbeit gibt?

Kn?fel: Christian Lutz, ehemaliger Leiter des Gottlieb Duttweiler Instituts, sprach letzthin vom Ende des Arbeitnehmers und es kommt die Lebensunternehmerin. Die weibliche Form ist dabei nicht ganz zuf?lig, die Frau als flexibel, die nebenbei noch die Windeln wechselt. Die Caritas hat sich zu diesem Thema mehrfach ge?ssert; wir haben uns entschieden, ?er die EL zu gehen. Dabei ist uns das von mir eingangs skizzierte strategische Dilemma klar. Thematisieren wir die arbeitspolitischen Fragen des Mindestlohnes usw. oder den sozialpolitischen Anspruch auf ein Recht auf Existenzsicherung. Wir versuchen auf beiden Hochzeiten zu tanzen, da wir die L?ken bei beiden Ans?zen sehen.

 Sch?er: Die Gewerkschaften stehen hier vor einem Problem, denn diese Leute werden tats?hlich nicht erfasst und ihre Zahl steigt. F? die Gewerkschaften gibt es zwei M?lichkeiten: Entweder fassen sie auch in diesem Segment Fuss, was mir sehr schwierig scheint, da die gewerkschaftliche Arbeit konkret ?er Anstellungsverh?tnisse erfolgt. Oder sie bek?pfen die Ursachen, die zu prek?en Arbeitsverh?tnissen und erzwungener Selbst?digkeit f?ren. Ich denke, diese Richtung macht mehr Sinn. Das erfordert mehrere Strategien, wie beispielsweise Bek?pfung der Erwerbslosigkeit, Erwerbsarbeitszeitverk?zung, Abschaffung von Arbeit auf Abruf,Verbesserungen im Arbeitsrecht und im ArbeitnehmerInnenschutz.

Ich verstehe die SGB-Kampagne noch nicht ganz. Bringt man sie durch, steigen die L?ne auf 3000 Franken. In den unia-Sektoren ist bei der Besch?tigung eine hohe Lohnelastizit? vorhanden: h?ere L?ne bedeuten tiefere Besch?tigung. In diesen Bereichen wird es dann zu h?erer Arbeitslosigkeit kommen.

Kn?fel: Das ist nat?lich ein Grundthema; wenn eine Firma keine h?eren L?ne zahlen kann, geht sie halt bei Festlegung eines Minimallohns von 3000 Franken in Konkurs und wir verlieren die ensprechenden Arbeitspl?ze. Aus einer gesamtwirtschaftlichen Sicht k?nte man sich allerdings auch noch etwas anderes ?erlegen: Wir akzeptieren im Moment, wenn ein Kapitaleigner sagt, einer Firma ohne 15 Prozent Rendite, der entziehe ich mein Kapital. Jetzt k?nte man sagen: Heute werden niedrige L?ne mit Sozialhilfe subventioniert. Die Sozialhilfe wiederum wird ?er Steuern finanziert. Wir k?nten als Steuerzahler sagen, eine Firma die nicht 3000 Franken Lohn f? eine Vollzeitstelle zahlen kann, hat auch keine Existenzberechtigung, denn wir sind nicht bereit, f? eine solche Firma Steuern zu bezahlen.  

Sch?er: Es gibt ein einfaches Gegenbeispiel zu diesem angedeuteten Szenario: In Genf gibt es seit mehreren Jahren im Verkauf, im Non-Food Bereich, einen GAV. Die L?ne dort sind jedoch deutlich h?er als in der ?rigen Schweiz. Bei diesem GAV sind gesamtschweizerische Ketten, wie z.B. Globus dabei, die bis heute gut ?erlebt haben. Offenbar gibt es im Detailhandel Reserven.

Was heisst denn eigentlich noch Vollzeit, bei dem Arbeitsvolumen, das heute noch existiert, und vielen Leuten, die Teilzeit arbeiten, oder gerne w?den? Ausserdem kommt mir die Debatte sehr m?nerorientiert vor. Rechnet ihr nach wie vor mit einem 30 Prozent tieferen Lohn f? Frauen, die nebenbei noch die ganze Reproduktionsarbeit leisten m?sen?

Sch?er: Die Dimension der unbezahlten Arbeit ist in den Gewerkschaften in der Tat zu wenig pr?ent. Die Gewerkschaften m?sen sich konsequenter f? eine Umverteilung jeglicher Arbeit einsetzen. Ich denke, wir kommen am ehesten einen wesentlichen Schritt voran, wenn es uns gelingt, die Erwerbsarbeitszeit wesentlich zu verk?zen. Die 36- Stunden-Initiative des SGB bildet hier nur einen Anfang. Ich gehe davon aus, dass es genug Arbeit f? alle Menschen geben muss. Der Ansatz muss daher der sein, die Erwerbsarbeitszeit so weit zu verk?zen, dass sowohl f? bezahlte wie unbezahlte Arbeit gen?end Geld und Zeit vorhanden ist.

* Trotz Einkommen kein Auskommen – Working Poor in der Schweiz, Luzern: Caritas-Verlag 1998, 120 Seiten,. Zu beziehen bei: Caritas Schweiz, Telefon 041-419 22 22, Fax 041-419 24 24.

Corinne Sch?er ist Zentralsekret?in der Gewerkschaft unia und Grossr?in f? das Gr?e B?dnis in Bern.
Carlo Kn?fel ist Sozialwissenschaftler und Leiter der Stabsstelle Grundlagen und Evaluation der Caritas Schweiz.
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