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Redaktionsgespräch 1.2000  mit Franco Cavalli, Franziska Teuscher und Ruedi Spöndlin

Aktive linke Gesundheitspolitik

Rahmenbedingungen für ein gesundes Leben

Die schweizerische Gesundheitspolitik beschäftigt sich gegenwärtig vor allem mit den Kosten der medizinischen Versorgung. Die Linke hat der Bevölkerung bisher erfolgreich eine gute Versorgung garantieren können. MOMA möchte in dieser Diskussion die Gesundheitspolitik jedoch stärker in ein soziales Umfeld stellen und fragt nach den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die nicht nur eine Heilung der Krankheiten, sondern ein gesundes Leben ermöglichen. Die Fragen der Redaktion beantworteten Franco Cavalli, Ruedi Spöndlin und Franziska Teuscher. 

Was sind Schwerpunkte einer linken Gesundheitspolitik?

Franziska Teuscher: Eine linke Gesundheitspolitik muss den Menschen ein Leben unter gesunden Arbeits- und Lebensbedingungen ermöglichen. Es geht hier also nicht um eine Politik, sondern um mehrere Politiken. Denn Gesundheitspolitik berührt als Querschnittspolitik verschiedenste Bereiche. Daher sollte die Linke auch den ökonomischen Bereich verstärkt berücksichtigen und klar machen, dass beispielsweise die Arbeitsbedingungen oder die Auswirkungen der Raumplanung krank machen können. Es gibt Arbeitsformen, die den Unternehmen förderlich sind, der menschlichen Gesundheit jedoch schaden. Ich denke zum Beispiel an die Arbeit auf Abruf. Sehr viele Frauen müssen unter äusserst schlechten Bedingungen arbeiten, was ihr physisches und mentales Wohlbefinden stark angreift. Wieder vermehrt eingebracht werden müssen in die Diskussion um die Gesundheitspolitik auch die Umweltfaktoren, zum Beispiel der Verkehr, der Lärm, die Luft usw.

Ruedi Spöndlin: Unzählige gesellschaftliche und Umweltbedingungen haben Einfluss auf die Gesundheit, nur sind diese Zusammenhänge nicht immer bekannt. Gesundheitspolitik muss daher durch alle Bereiche hindurch wirken. Möchte man aber eine umfassende Gesundheitspolitik am Reissbrett entwerfen, müsste das wohl scheitern. Ich denke, eine derartige Gesundheitspolitik muss aus Bewegungen heraus entstehen, in denen Menschen ihre Interessen anmelden und formulieren. Beispielsweise gab es Bewegungen für eine gemeindenahere, offenere Psychiatrie, die auch heute noch aktiv sind. Oder es gibt die Aidsorganisationen. Sie haben uns in den letzten 20 Jahren gezeigt, was würdiger Umgang mit einer tödlichen Krankheit bedeutet. Diese Bewegungen müssten aufgenommen und ihre Vernetzung gefördert werden.

Franco Cavalli: Eine linke Gesundheitspolitik muss zwei Bedingungen genügen. Erstens soll sie versuchen, eine Gleichbehandlung aller Menschen anzustreben, ob gesund oder krank. Die Trennung zwischen einer Gesundheitspolitik tiefer Krankenkassenprämien und einer, die die Umweltaspekte berücksichtigen will, scheint mir daher eher künstlich. Hier darf es keinen Widerspruch geben. Zweitens soll eine solche Politik nicht nur die individuellen Ursachen, sondern auch die gesellschaftsbedingten Ursachen des Gesund- und Krankseins ausfindig machen und, im Sinn meiner ersten Forderung, entsprechend ändern. 

In der Diskussion über Sparmassnahmen im Gesundheitswesen hat sich die Linke auf einen ökonomischen Lösungsansatz konzentriert. Im medizinischen Bereich gibt es aber auch Macht: Der mächtige "Gott in Weiss" verschreibt uns eine Therapie. Wie verträgt sich vor diesem Hintergrund der ökonomische Ansatz mit Demokratie?

Franco Cavalli: Jede fortschrittliche Gesundheitspolitik sollte unterschied- liche Lebenserwartungen in den verschiedenen Schichten zum Verschwinden bringen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das in Westeuropa weit- gehend der Fall. Reaktionäre Politik vergrössert diese Unterschiede wieder; man kann das am Beispiel Gross- britanniens gut veranschaulichen. Nach der Wende von Thatcher sind die Unterschiede zwischen den ärmsten und den reichsten Schichten ungefähr so gross wie zu Beginn dieses Jahrhunderts. Das ist Ausdruck von Allokationsmechanismen, die beispielsweise der allgemein zugäng- lichen Grundversorgung weniger Mittel zugestehen. Darin spiegeln sich aber auch verschärfte Arbeitsbedingungen, Informationsunterschiede usw. Es gibt in der Gesundheitspolitik keine Monokausalität. 

Wir sind uns anscheinend einig, dass Gesundheitspolitik den sozialen Ausgleich und die Rahmenbedingungen verbessern soll. Warum nur hört man selten etwas davon?

Franziska Teuscher: Ich möchte hier etwas präzisieren: Bei einer linken Gesundheitspolitik muss das Ökonomische nicht unbedingt im Zentrum stehen. Wir werden aber von den Bürgerlichen damit dauernd konfrontiert und daher sind wir gezwungen, unsere Ansätze und Vorstellungen einzubringen. Die Gesundheitsinitiative der SP ist meiner Ansicht nach ein sehr gelungenes Beispiel. Aber wir ParlamentarierInnen müssen uns auch dafür einsetzen, dass die heutigen Möglichkeiten des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) voll genutzt werden. Die Prämienverbilligungen werden von vielen Kantonen nicht voll ausgeschöpft. Das KVG ist sicher nicht das optimale Gesetz, aber es stellt doch sicher, dass alle Menschen einen Anspruch auf eine Grundversicherung mit guten Leistungen haben. Die inhaltliche Frage nach der Gesundheitspolitik ist daher interessant, weil sie nicht von anderen Politiken losgelöst werden kann. Luftreinhaltepolitik, CO2-Abgaben, höheres Rentenalter für Frauen: das sind Beiträge zur Gesundheitspolitik, was aber nicht immer genügend aufgezeigt wird. Das sollte sich ändern, denn es stehen Abstimmungen an, die auch für die Gesundheit sehr wichtige Folgen haben können. Ich denke an das Rentenalter oder die Verkehrshalbierung.

Franco Cavalli: Es gibt einen Widerspruch ganz struktureller Natur in unserer Politik. Pauschalisierend gesagt arbeiten die PolitikerInnen, die sich mit allgemeinen Themen beschäftigen, auf nationaler Ebene. Je weiter wir auf den Ebenen hinuntersteigen, desto pragmatischer wird die Politik. Die Gesundheitspolitik ist eine Sache der Kantone. Wir können sie von Bern aus gegenwärtig fast nur über das Sozialversicherungsrecht beeinflussen. Auch über den Inhalt der Hochschulpolitik können wir wenig sagen, wir können nur mehr oder weniger Geld zuteilen. Es gibt hier eine Schizophrenie im System.

Die Linke muss zurzeit in den meisten Sozialwerken das Bestehende gegen bürgerliche Angriffe verteidigen, so auch bei der Krankenversicherung. Aber gerade die Gesundheit erlaubt doch Themenführerschaft in eigentlichen linken Kernbereichen wie Umwelt, Arbeit, Verkehr usw.

Ruedi Spöndlin: Auf die Forderung, die Linke solle nicht nur reagieren, sondern auch agieren, kommt sehr schnell das Wort "Prävention". Ich habe dabei Vorbehalte. Prävention kann etwas sehr Repressives haben. Repressive Regimes der Vergangenheit haben eifrig "Prävention" betrieben ...

Franco Cavalli: ...auch die Sozialdemokraten, in Skandinavien beispielsweise ...

Ruedi Spöndlin: ... die auch; aber es gibt noch einen anderen repressiven Aspekt der Prävention. Er besteht darin, Schuldgefühle zu wecken: Habe ich jetzt wieder ein Ei zu viel gegessen, ist mein Cholesterin-Spiegel zu hoch? Solche Schuldgefühle werden schnell instrumentalisiert. Da folgt der Ruf, Menschen mit ungesunden Verhaltensweisen die Krankenkassenprämien hinaufzusetzen. Man muss hier Vorsicht walten lassen. Es gibt Menschen, die aus verschiedensten Gründen nicht gesund sein wollen. Diese zu zwingen, gesund zu sein, kommt meist falsch heraus: Die repressive Drogenpolitik macht DrogenkonsumentInnen noch kränker. Es gibt aber auch bessere Formen von Prävention. Es wird mehr auf Persönlichkeitsstärkung abgezielt usw. Das ist sicher sinnvoll, zeugt aber auch von einer gewissen Ratlosigkeit. Auch diese Konzepte führen übrigens nicht so rasch und eindeutig zum gewünschten Erfolg. Trotz viel kreativer Präventionsarbeit rauchen die Jugendlichen heute beispielsweise mehr denn je. Dann gibt es Konzepte, die eher auf die Umwelt abzielen, Reduzierung von Luftschadstoffen zum Beispiel. Das wäre ein Form nichtrepressiver Prävention.

Franziska Teuscher: Du hast gesagt, man darf die Leute nicht zwingen, gesund zu sein. Das ist sicher richtig, aber teilweise werden die Menschen heute durch die Wirtschaft gezwungen, unter Umweltbedingungen zu leben, die krank machen. Dafür müsste man den Begriff der Prävention weiter fassen, denn eine andauernde Lärmquelle beispielsweise kann enorm krank machen. Den Menschen sollte ermöglicht werden, gesund zu leben. Ob sie es auch tun, ist ihre eigene Sache.

Franco Cavalli: Es ist wichtig, den Menschen zu vermitteln, das Gesund- und Kranksein komplexe Grundlagen haben. Sonst kann der Eindruck entstehen, wer mehr Rüeblisaft trinke, habe ein geringeres Krebsrisiko. Bekommt jemand dann Krebs, hat er noch das Gefühl, er sei selbst schuld daran. Der Zufallsfaktor bei der Entstehung von Krankheit sollte nicht unterschlagen werden. Mir ist aber noch ein anderer Punkt wichtig: Gesundheit und Bildung sind zwei Felder, die in den nächsten Jahren eine zentrale Rolle im Verteilungskampf spielen werden. Dass diese Themen politisch so zentral geworden sind, ist kein Zufall. Hier muss sich die Linke sehr stark profilieren; auch weil sie zurzeit nicht in der Lage ist, gewisse Fragen wie die Eigentumsfrage zu stellen, auch wenn sie es wollte.

Im Parlament vielleicht nicht ...

Franco Cavalli: Auch draussen nicht. Aber mit unserer Gesundheitsinitiative haben wir so etwas wie eine minimale Reichtumssteuer lanciert. Unsere Position ist daher bestimmt keine Rückzugsposition. In vielen anderen Bereichen können wir offensive Positionen einnehmen.

Ein weiteres Wachstum des Bruttoinlandproduktes (BIP) bedeutet nicht zwangsläufig, dass sich die Menschen besser fühlen. Arbeit, Lärm, Luftverschmutzung, Auflösung sozialer Kontakte: hier gibt es eine Tendenz zu zunehmendem Unwohlsein. Wir müssen ja nicht gleich die Systemfrage stellen, könnten aber einen offensiveren Gesundheitsbegriff pflegen.

Ruedi Spöndlin: Man muss sich auch vor der Vorstellung hüten, die Leute seien heute kränker als früher. Das Gegenteil trifft eher zu. Die naturverbundenen Bauern in der Vergangenheit waren auch krank. Zu Beginn der Industrialisierung war die direkte Umweltverschmutzung viel stärker. Heute haben wir ein ausgeprägteres Gesundheitsbewusstsein und höhere Ansprüche. Ausserdem sind neue Krankheiten aufgetaucht. Es gibt vermehrt psychische Krankheiten. AIDS hat uns gezeigt, dass auch eine hochtechnologische Gesellschaft tödliche Infektionskrankheiten nicht einfach beseitigen kann. Dies, nachdem die Wissenschaft bereits den Sieg über diese erklärt hatte. Anzumerken ist allerdings, dass man neuerdings auch AIDS nicht mehr ganz hilflos gegenübersteht. Es gibt medikamentöse Therapien, die ein längerfristiges Überleben zu ermöglichen scheinen.

Franziska Teuscher: Wir hätten heute die Möglichkeit, ein gesünderes Umfeld zu schaffen. Wichtig ist auch der Blick in die Zukunft. Kann der Zugang zum Gesundheitswesen für alle weiterhin gewährleistet werden? Denn der Spardiskurs der Bürgerlichen hat sich unterdessen so in den Köpfen der Menschen eingegraben, dass sie die Ansicht teilen, man müsse überall sparen. Die Schweiz hat ein relativ gutes Gesundheitswesen. Wir müssen dieses Niveau halten und allen Menschen auch in Zukunft zugänglich machen. Ein Vermeiden einer Zweiklassen-Medizin bedingt auch, dass die Prämien bezahlbar bleiben. Es gibt sicher auch aus linker Sicht Sparmöglichkeiten im Gesundheitswesen. Bei den massiven Wirtschaftsinteressen, die im Gesundheitswesen involviert sind, ist Sparen aber nicht ganz einfach.

Franco Cavalli: Die Güte des Gesundheitswesens und die krankmachenden Umstände gibt es. Aber betrachten wir nochmals das Beispiel Grossbritannien: Mehr Privatisierungen, weniger Geld fürs Gesundheitswesen, präventive Leistungen wurden gestrichen. Damit ist die Lebens- erwartung der unteren Schichten massiv gesunken. Oder nehmen wir Russland: In den letzten zehn Jahren haben die Russen sieben Jahre mittlere Lebenserwartung verloren. Pro Jahr sterben damit eine halbe Million Leute mehr. Das Gesundheitswesen ist praktisch verschwunden, und die gesellschaftlichen Bedingungen sind schlechter geworden. Wir finden auch hier diese beiden Faktoren. Aber in Russland ist der Zusammenhang zwischen schlechten Bedingungen viel leichter auszumachen als bei uns. Die Ursache zu finden und auszuschalten ist nicht so einfach. Eine weitere Gefahr müssen wir im Auge behalten: Die vermehrte Forschung nach Krankheitsursachen für die Prävention könnte die Genforschung stark begünstigen. Und findet sich die genetische Grundlage einer Krankheit, dann kann das sehr repressive Folgen haben, mit der Begründung, gegen diese Krankheit könne man doch nichts tun.

Die Zusammenhänge zwischen Stress oder Umweltbelastung und Krankheit müssen nicht unbedingt in naturwissenschaftlichen Studien nachgewiesen werden. Wir können aus einer progressiven Sicht doch auch etwas auf die Selbstwahrnehmung der Menschen geben?

Franziska Teuscher: Ich möchte darauf hinweisen, dass auf einer gesamtheitlichen Ebene doch einiges getan wird. Im Berner Kantonsparlament wird gegenwärtig über Sparmassnahmen diskutiert. Über die Pflege im Gesundheitswesen wird dabei ausführlich debattiert, auch in der Öffentlichkeit. In einem solchen Zusammenhang wird vertieft auch über Inhalte, nämlich über die Art und Weise der Pflege, diskutiert. Das gehört für mich auch zu einer linken Gesundheitspolitik: Darzulegen, was die Sparmassnahmen der Bürgerlichen für konkrete Auswirkungen haben.

Ruedi Spöndlin: Die Auseinandersetzung über die Pflege ist ein gutes Beispiel. Wir haben das mit der Rationierungsdebatte in Zürich erlebt. Die Arbeitsbedingungen der Pflege und die Bedingungen der PatientInnen sind hier aufs Engste verknüpft. Glücklicherweise wehren sich hier auch die PflegerInnen. Dabei kommen Themen wie die Lebensbedingungen oder die Würde der Kranken, der Betagten, der Sterbenden auf den Tisch. Aber einfache Konzepte für die Gesundheitsförderung zu finden ist schwieriger. In der Dritten Welt hat die WHO wirkungsvolle Rezepte: Mit den einfachen Mitteln der Basisversorgung, mit sauberem Wasser, der Flüssigkeitszufuhr bei Durch- fall und elementaren Impfungen kann man dort beachtliche Erfolge erzielen. Auf unserem hohen Gesundheitsniveau stellt sich der Erfolg nicht so einfach ein. Für Europa entwickelte die WHO in den 80er-Jahren das Konzept "Gesunde Städte". Davon ist heute kaum mehr zu hören. Aber in diesem Rahmen wurde auch die erwähnte WHO-Definition der Gesundheit erarbeitet. Heute ist man sich darüber einig, dass sie wohl etwas zu hoch gegriffen ist, denn wer fühlt sich schon immer vollständig wohl?

Franco Cavalli: Natürlich muss man die Befindlichkeit der Leute berücksichtigen, aber die Leute dann auch zu mobilisieren, ist sehr schwierig. Eine Massenbewegung gibt es zurzeit aber bei den Pflegenden. Beim letzten Kongress des Schweizerischen Pflegeverbands SPK wollte der Vorstand eine Resolution fassen, dass man zumindest über die Rationierung diskutieren könne. Die Basis war dagegen: darüber diskutiere man aus ethischen Gründen nicht. Auf solchem Widerstand müssen wir politisch aufbauen. Das erwarten die Leute auch. Fragen wie Spitex sind entscheidende Fragen. Die Lebensqualität von kranken alten Menschen kann man hier entscheidend anheben. Hier muss man ausbauen und nicht nur verteidigen.

Franziska Teuscher: Ich bin damit einverstanden. Es handelt sich aber auch um einen relativ heiklen Bereich. Man ist sich zwar einig, dass ältere Menschen zu Hause gepflegt werden können. Die bürgerliche Antwort ist aber: Das können diese Leute selber machen, oder die Ehefrauen. Hier muss man aufzeigen, dass das nicht durch Frauenarbeit gratis zu haben ist. Das Gesundheitssystem soll nicht von den Frauen profitieren können. 

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Franco Cavalli Professor für Onkologie, Nationalrat und Fraktionspräsident der SP
Ruedi Spöndlin Jurist, Journalist und Redaktor der Zeitschrift "Soziale Medizin"
Franziska Teuscher

grün-alternative Nationalrätin des Grünen Bündnisses Bern

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