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Redaktionsgespräch 4.2000

"Gleichberechtigte Teilhabe aller"

Integration zwischen Demokratie und Republikanismus

Die Schweizerische Ausländerpolitik kennt keine eigentliche Definition von Integration. Dennoch ist in Sachen Integration einiges passiert in letzter Zeit. MOMA sprach mit der grünen Nationalrätin Cécile Bühlmann und den zwei Migrationsspezialisten Hans Mahnig und Gianni D’Amato über Lichtblicke und Schattenseiten von Integration und Migration.

MOMA: Die Schweiz hatte letztes Jahr nur dank Einbürgerungen ein Bevölkerungswachstum zu verzeichnen. Eine Studie der OECD spricht von "hohen Migrationsvolumen", die es brauchen wird, um das Funktionieren von Gesellschaften westlichen Zuschnitts zu gewährleisten. Auch die Schweiz fordert Informatiker aus dem Ausland an und schickt Kosovo-Albaner nach Hause. Welche Bedeutung wird die Immigration für die Schweiz haben?

Cécile Bühlmann: Betrachten wir die Geburtenstatistik: Jedes zweite Kind, das in der Schweiz geboren wird, hat mindestens einen Elternteil ausländischer Herkunft. Jede vierte Ehe wird unter ausländischen PartnerInen geschlossen. In der Hälfte aller Ehen ist einer oder beide Partner ausländisch. Ohne diese Menschen hätten wir die Hälfte der Geburtenrate in der Schweiz. Das sind Fakten, die man den allgegenwärtigen Ideologien entgegenhalten muss. Migration ist ein völlig normaler Vorgang. Ich möchte Migration einfach besser und anders handhaben, als es heute der Fall ist.

Hans Mahnig: Immigration ist ein normaler Vorgang, aber sie gehorcht immer bestimmten Kriterien: Heute wird die Arbeitsmigration nach Europa und der Schweiz von rein nationalstaatlichen Interessen bestimmt. Der Arbeitsmarkt gibt vor, wer kommen kann, und die Tendenz geht dahin, dass die westlichen Staaten immer stärker eine Politik des brain drain betreiben und gleichzeitig die Mauern für weniger gut Ausgebildete aus ärmeren Staaten höher ziehen. Deshalb müssen in der politischen Diskussion um Migration die Kriterien für die Einwanderung in den Mittelpunkt gestellt werden.

Gianni D’Amato: In der Schweiz und in Deutschland gibt es eine Tradition hochdramatisierter Diskussion über die Einwanderung. Dem sind beispielsweise die USA und Kanada entgegenzustellen. Als Einwanderungsländer per Definition haben diese einen viel gelasseneren Ansatz. Die Frage stellt sich, ob nicht auch Deutschland und die Schweiz als "blosse" Einwanderungsländer gesehen werden müssten. Bei uns hat in den letzten fünfzig Jahren ein Bewusstseinswandel stattgefunden. Da sind beispielsweise Ehen zu erwähnen, aber auch Veränderungen in der kulturellen Symbolik, die sich auf das Selbstverständnis der Schweiz gegenüber Einwanderung positiv ausgewirkt haben. Wesentlich erscheint mir jedoch eine neuere Differenzierung zwischen der "alten" und der "neuen" Einwanderung zu sein. Zu den letzteren zählen beispielsweise Türken oder Ex-Jugoslawen, die weiterhin gesellschaftlichen Ausschlussprozessen ausgesetzt sind.

Migration entsteht durch Reichtums- und Wachstumsgefälle. Die Schweiz scheint mit der Perspektive, indische Informatiker integrieren zu müssen, bedeutend weniger Probleme zu haben als mit derjenigen von Kosovo-Albanern, obwohl deren Kulturkreis uns viel näher liegt. Welche Qualifikationen entscheiden über die Integrationschancen?

Bühlmann: Integration bedeutet für mich die möglichst schnelle Teilhabe, Partizipation an allen Institutionen, Gütern und Möglichkeiten der Aufnahmegesellschaft. Wieviel kulturelle Identität jemand dabei noch behalten soll, ist hingegen eine private Angelegenheit. Wichtig ist, dass MigrantInnen autonom werden können. Fundamental ist dafür der Erwerb der jeweiligen Sprache.

Ganz klar gibt es nun unterschiedliche Voraussetzungen, die MigrantInnen für das Leben in unserer hochtechnologischen Gesellschaft mitbringen. Gut ausgebildete, sprachgewandte Leute aus städtischen Verhältnissen haben – grundsätzlich und ohne hier Wertungen anbringen zu wollen – bessere Integrationschancen und -möglichkeiten als andere, die diese Kenntnisse nicht haben. Dabei spielen selbstverständlich auch andere Faktoren eine wichtige Rolle wie Schichtzugehörigkeit oder Sozialisation. Ziel der Integration ist immer die Autonomie in der neuen Gesellschaft. Die politische Partizipation oder die Mitgestaltung im Berufsalltag können diesen Prozess unterstützen.

Mahnig: Tatsächlich spielen Faktoren wie städtische oder ländliche Herkunft, Schicht oder Bildung eine wichtigere Rolle für die Erklärung individueller Integrationschancen als die nationale oder ethnische Herkunft, welche heute unter dem Begriff "kulturelle Distanz" ständig in den Vordergrund gerückt wird. Aber das Gelingen von Integration hängt natürlich nicht nur von individuellen Fähigkeiten der MigrantInnen ab, sondern auch von der Abschaffung von Integrationsbarrieren. Die Schweiz kennt eine Unzahl solcher Barrieren, beispielsweise im Ausländerrecht oder auf dem Arbeitsmarkt. Die beste Ausbildung und Sprachkompetenz nützen nichts, wenn das Gesetz ihren Gebrauch verhindert.

D’Amato: Warum interessiert überhaupt Integration? Es gibt ja auch Segregationsphänomene wie Reichenviertel oder ethnische Kolonien, in der alle Schichten einer bestimmten Herkunft zusammenleben. Beide werden oft wenig problematisiert, weil sie autonom funktionieren und gegenüber der Umwelt durchlässig sind. Was problematisiert wird, ist die Angst vor der Armut der "gefährlichen" Klassen, der man nicht mehr Herr werden kann. Am augenfälligsten ist das natürlich in den Städten.

Was kann hier geschehen? Der normative Anspruch einer gleichen Kultur, einer grösseren Ähnlichkeit aller, die dann die Probleme quasi aus der Welt schafft, ist in einer ausdifferenzierten Gesellschaft nicht einlösbar. Wir müssen uns also auf Instrumente stützen wie der Kommunikation, weil Integration zu einem grossen Teil darauf beruht. Integration heisst deshalb auch Orte schaffen, in denen gegensätzliche Interessen offen und gleichberechtigt zur Sprache gebracht werden können.

Nicht nur die Ankommenden müssen Integrationsleistungen erbringen, es braucht auch Strukturen auf der Aufnahmeseite. Wer integriert? Welches sind die zentralen Instanzen: Staat, Gesellschaft, Institutionen oder Private?

Mahnig: Es gibt nur wenige Institutionen, die direkt und gezielt integrieren. Ich würde sogar sagen: Integration ist ein Prozess, der einfach abläuft und grösstenteils von den MigrantInnen selber geleistet wird. Die Aufnahmegesellschaft reagiert meist erst, wenn sie die fehlende Integration als Bedrohung für sich selbst wahrzunehmen beginnt oder wenn MigrantInnen etwas kosten, zum Beispiel bei Arbeitslosigkeit und Fürsorgeabhängigkeit.

Bühlmann: Die Schweiz hat nie eine Integrationspolitik definiert, sondern betrieb Arbeitsmarktpolitik. In der Hochkonjunktur war Integration gar kein Thema, es handelte sich strukturell im Gegenteil um eine stark antiintegrative Politik. Im Bundesgesetz über Niederlassung und Aufenthalt von AusländerInnen ANAG stand bis vor einem Jahr kein Wort über Integration, dafür umso mehr über Abwehr und Kontrolle. Erst mit der Rezession und der verschärften Debatte über die AusländerInnen in der Schweiz nimmt man dieses Problem überhaupt wahr. Die Leitbilder sind ein Versuch einer Antwort auf die verschärfte Debatte und die nicht-integrative Politik der Schweiz in den letzten Jahren. Noch immer hat sogar die zweite Generation schlechtere Berufschancen, darunter PortugiesInnen, SpanierInnen, ItalienerInnen. Für sie existiert Chancengleichheit noch immer nicht.

D’Amato: Klassische Integrationsinstanzen sind die Sozialisationsinstanzen wie die Familie, in erster Linie aber die Schule. Die Schule wird aber mit verschiedensten Integrationsleistungen überbefrachtet, sodass viele LehrerInnen gezwungen sind, bestimmte Aufgaben nach einem Kosten-Nutzen-Prinzip zu bewältigen. Damit besteht in der Schweiz eine Willkür, die selektiv wirkt: Ich kann in eine Schule mit vorbereiteten LehrerInnen kommen oder eben nicht.

Bühlmann: Die Schule hat insgesamt doch wesentlich zur Integration beigetragen. Es gilt der generelle Schulbesuch aller, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Status. Diese Integrationsleistung hat die Schule erbracht. Sie ist aber nicht mit genügend Mitteln ausgestattet worden, um diese Aufgabe vollständig zu erfüllen.

Welche Instanzen sollten denn integrieren? Die Leitbilder scheinen oft recht wenig mit gesellschaftlicher Integration zu tun zu haben, sondern eher eine Art Managementskizze für die Behörden zu sein. Der aktive Beitrag von BürgerInnen wird kaum erwähnt.

Mahnig: In allen Leitbildern werden die Schweizer Vereine erwähnt. Aber gerade diese zivilgesellschaftlichen Organisationen tragen stark zum Ausschluss von MigrantInnen bei. Bei der Ausarbeitung des Winterthurer Leitbildes zeigte beispielsweise eine Umfrage, dass Schweizer Vereine wenig Interesse haben, sich mit Integration von MigrantInnen auseinander zu setzen. Auch die Gewerkschaften haben sich erst mit den MigrantInnen befasst, als diese Mitglieder geworden waren. Es stellt sich die Frage, ob zivilgesellschaftliche Organisationen wirklich "integrativer" wirken als staatliche Instanzen.

Bühlmann: Staatlicherseits könnte man wenigstens die Integrationshürden abbauen, wie das immer noch gültige Saisonnierstatut, oder die Gesetzesbestimmung, die Menschen mit einer B-Bewilligung verbietet, selbstständig zu arbeiten. MigrantInnen sind Menschen, die etwas verändern wollen. Das haben sie bewiesen, indem sie einen Weg aus ihrere Misere gesucht haben. Hier werden sie daran gehindert, ihre Kompetenzen einzubringen. Dazu kommen weitere Handicaps wie die harten Bedingungen für den Familiennachzug (Einkommen, Wohnungsgrösse usw.). Mit den bilateralen Verträgen wird es für EU-BürgerInnen einfacher, aber für Nicht-EU-Mitglieder wird es eher noch schwieriger werden. Ich verweise hier auf die Revision des ANAG. Nicht vergessen möchte ich, auf geschlechtsspezifische Missstände hinzuweisen: Frauen können nur in die Schweiz kommen über Heirat, als Illegale oder als Sexarbeiterinnen. So spielt die Schweiz die Rolle der Zuhälterin.

Hinter den Normierungen steht auch ein rationaler Diskurs: Wir möchten Menschen, die integrierbar sind, sonst werden sie vom Volk nicht akzeptiert, was wiederum den rechtsextremen Parteien Zulauf bringt.

Bühlmann: Es handelt sich eher um ein korporatistisches Denken: Man möchte damit Menschen von gewissen Bereichen fernhalten. Der "rationale" Diskurs dient hier als Feigenblatt, um den Kuchen nicht mit MigrantInnen teilen zu müssen. Die Einwanderung hat zu einer Segmentierung der Arbeitswelt geführt, die die Privilegien der Einheimischen weitgehend wahrt.

D’Amato: Wir haben es dabei weniger mit einer Migrationsfrage, als mit einem liberalen Paradox zu tun. Heute fordert man einerseits den freien Verkehr von Waren und Arbeitskräften über nationalstaatliche Grenzen hinweg, für gewisse Menschen soll diese Freizügigkeit aber nicht gelten.

Die eher fortschrittlichen Kommunen und Agglomerationen geben sich Leitbilder. Sind diese Leitbilder mehr als nur Papier, steht dahinter auch ein politischer Handlungswille?

D’Amato: Bei der letzten Tagung des Städteverbandes in Bern ist mir aufgefallen, dass niemand von den Vertretern mehr von "Überfremdung" sprach. Dies zeigt, dass Menschen, welche ohne Schweizer Pass hier leben, zu einer Normalität geworden sind. Die Diskussion via Leitbilder trägt zu solchen Verbesserungen bei. Die Leitbilder haben sich durch die Kritik an den ersten Leitbildern ja auch verändert. MigrantInnen treten in Diskursen über Integration nicht mehr als "Randständige" auf, sondern als zu respektierende Einwohner unserer Städte.

Bühlmann: In Luzern wurde ein kantonales Leitbild erstellt, bei dem ich als Vizepräsidentin der ausarbeitenden Kommission mitgewirkt habe. Verschiedenste Leute aus der kantonalen Verwaltung und Migrationsfachstellen kamen dabei zusammen, ich möchte die Wirkung der Versachlichung dabei hervorheben. Damit wurde die Polemik in der Ausländerthematik für viele zum ersten Mal auf einer versachlichten Ebene angegangen. Es wurde eine Vielzahl von interessierten Gruppierungen in der Vernehmlassung konsultiert. Die Lackmusprobe kommt allerdings erst bei der Umsetzung.

Mahnig: Ich bin da skeptischer. Leitbilder gibt es, weil MigrantInnen auf Grund der Rezession etwas kosten, weil die Mittelschichten aus den Städten abwandern und die Stadtregierungen den Steuerausfall bekämpfen wollen. Der Impuls für die Leitbilder ist also nicht die Idee der Chancengleichheit, sondern das Ziel, sozioökonomische Probleme zu lösen. Da sie möglichst viele politische Akteure einbinden wollen, stellen die Leitbilder politische Kompromisstexte dar, die auch xenophoben Kräften Zugeständnisse machen. Deshalb wird beispielsweise der so genannten "Ausländerkriminalität" in den Leitbildern so viel Platz eingeräumt, obwohl diese mit der Integration der in der Schweiz niedergelassenen Bevölkerung herzlich wenig zu tun hat, sondern von der internationalen Mobilität herrührt. Auf Grund ihres Kompromisscharakters haben Leitbilder oft auch eine autoritäre Komponente. Das Zürcher Leitbild spricht von einer Pflicht zur Integration. Es gibt aber keine Pflicht zur Integration in einer wirklich liberalen Gesellschaft.

Bühlmann: Es ist richtig, dass Kriminalität und Sicherheit mit Integration wenig zu tun haben. Als kantonale Kommission können wir das nicht einfach ignorieren, sonst werden wir als unglaubwürdig eingestuft. Die Krise hat den Diskurs noch verschärft. Leitbilder sind der Versuch darauf zu reagieren. Hier gilt es pragmatisch zu sein: Am Tisch sitzen nicht 25 Grüne, sondern auch der Polizei- und der Fremdenpolizeichef. Dabei entstehen Kompromisse, aber hinter denen kann ich noch einigermassen stehen. Wir dürfen das Feld nicht den rechten Scharfmachern überlassen.

Integrationsleitbilder arbeiten mit Begriffen der Autonomie und Gleichberechtigung. In der politischen Realität siehts aber anders aus. In verschiedenen Gemeinden wurden Einbürgerungen durch das Volk verweigert. Hier gibt es doch eine klaffende Lücke zwischen Anspruch und Realität. Was können Kommunen für die Integration leisten?

Bühlmann: Die Rolle der Kommunen ist ambivalent. Sie haben viele Möglichkeiten im Vollzug, aber die übergeordnete Gesetzgebung ist kantonal oder eidgenössisch.

Was über die Einbürgerung abläuft, ist irreal. Hier kumulieren sich sämtliche Früste, Unzufriedenheiten und Ressentiments. Die Gemeinden hätten auch die Möglichkeit, Fristen zu verkürzen usw. Aber mit sachlichen Argumenten kommt man nicht durch. Die Einbürgerung wird zum Puffer für alles, was mit der Einbürgerung nichts zu tun hat.

Wir brauchen dringend den Übergang zum Prinzip des ius soli (Rechtsanspruch auf das Bürgerrecht des Staates, auf dessen Territorium jemand geboren wird, z.B. in den USA). Wir erwarten Mobilität von den Arbeitskräften, halten aber bei der Staatsbürgerschaft an alten Zöpfen fest. Fortschritte haben wir auch keine geschafft. Keine erleichterte Einbürgerung, keine Verkürzung der Fristen. Im Kanton Luzern und vielen anderen Kantonen gibt es weiterhin keinen Rechtsanspruch bei Erfüllung aller formalen Kriterien.

Mahnig: Die Idee, dass Integration lokal und kleinräumig geschehen muss, war ja auch immer die Idee der Eidgenössischen Ausländerkommission (EKA). Aber gerade die Gemeindeautonomie, auf der das schweizerische Einbürgerungsverfahren beruht, hat die Integration oft erschwert. Denn auf Grund dieser Autonomie wird von MigrantInnen, die sich einbürgern lassen wollen, die Assimilation an die "lokale Ethnizität" verlangt. Das Einbürgerungsverfahren gehörte daher auf die Bundesebene gestellt – was aber im föderalistischen System wohl politisch fast unmöglich durchzusetzen ist. Die Schwierigkeit, Vorgänge wie in Emmen zu bekämpfen beruht darauf, dass deren Befürworter argumentieren, es handle sich ja um einen demokratischen Prozess. Dies stimmt zwar, aber dafür werden republikanische Werte mit Füssen getreten.

D’Amato: Es gibt auch Nachteile bei einem Entzug der republikanischen Solidarität. So haben Kommunen sich in Deutschland aus der Wohnungspolitik zurückgezogen und die Wohnungen dem freien Markt überlassen. Quartiere werden damit mehr und mehr entmischt und nach Schicht, Einkommen und Herkunft aufgeteilt. In solchen Fällen erscheint es sinnvoll, den Kommunen wieder politische Ausgleichsinstrumente in die Hand zu geben.

Gibt es Spielräume in den Leitbildern für andere Bereiche?

Bühlmann: Die Schule ist ein wichtiger Teil, denn mit der Teilautonomie werden gewisse Kompetenzen von den Kantonen an die Gemeinden delegiert. Schulen, Quartiere, Gemeinden mit hohen Ausländeranteilen haben hier die Möglichkeit, sich ein qualifiziertes Profil zu geben. Ich denke beispielsweise an das Projekt "Quims" (Qualität in multikulturellen Schulen), das im Kanton Zürich durchgeführt wird. Dazu braucht es aber Geld. Darin besteht auch die Gefahr, weil Sparen angesagt ist.

Mahnig: Viele Leitbilder wollen der sozialen Durchmischung in Wohnquartieren Vorschub leisten, mithilfe einer gezielten Vermietungspolitik. Ich finde es aber schockierend, wenn dies durch ethnische Quoten geschehen soll. Zum Beispiel: Wenn schon ein Türke in dieser Genossenschaft wohnt, dann bitte keine zweite Türkin.1 Einerseits verstösst dies gegen liberale Grundprinzipien; andererseits wird damit wieder die ethnische Differenz hervorgehoben, und damit die Fiktion aufrechterhalten, mit einer richtigen Mischung könnten soziale Probleme behoben werden, deren Wurzeln eigentlich sozioökonomischer Natur sind.

Informationspolitik und Massnahmen zur Förderung des Dialogs ( seis durch Veranstaltung von Diskussionen, Strassenfesten oder Unterstützung quartierbezogener Projekte) sind ein Bereich, in dem sich Kommunen stärker engagieren könnten.2

Bühlmann: Auch das Wohlbefinden der Menschen können Gemeinden beeinflussen. Ich denke an die Gestaltung des öffentlichen Raums oder an die Verkehrsberuhigung. Lebensfreundliche Umgebungen sind attraktiver zum Wohnen und ermöglichen eine bessere Durchmischung.

D’Amato: Darauf weisen auch historische Belege hin. Die Elendsviertel der Arbeiter im 19. Jahrhundert wurden in den Industriezentren mit neuen Stadtprojekten überwunden. Die "gefährlichen" Klassen von damals, die Arbeiter, das sind heute die MigrantInnen.

Wer über das Budget entscheidet, scheint jedenfalls an Integration, wie sie in Leitbildern zu finden ist, wenig Interesse zu haben.

D’Amato: Die Frage ist, welche Gesellschaft die Politik will. Diese Frage müssen auch wir uns stellen: Wollen wir immer mehr Armut, immer mehr Umweltschäden usw. produzieren, sind die Probleme praktisch vorprogrammiert. Aber historisch gesehen ist die Schweiz ein Land des Ausgleichs: Man lässt nicht einfach alles bachab gehen. Die Leitbilder können ein Ansatz für die Suche nach einem neuen Kompromiss sein.

Bühlmann: Allerdings sind nicht alle politischen Kreise daran interessiert, auch nicht an der Integration armer und alter Leute. Da genügt es, die AHV-Pläne der SVP zu studieren. Privilegierte werden weiter privilegiert. Werden sich diese Kreise durchsetzen mit ihrer Politik, werden das nicht nur MigrantInnen zu spüren bekommen, sondern alle Leute, die nicht zur etablierten Mitte zählen.

Genügt es denn, die Integration einseitig vom Staat her zu denken? Müsste nicht auch die Wirtschaft mehr leisten als "blosse" Arbeitsintegration?

Bühlmann: Ich wäre schon froh, würden sie existenzsichernde Löhne bezahlen. Das ist in einer Vielzahl von Arbeitsbereichen nicht der Fall. Fallen MigrantInnen unter die Armutsgrenze, laufen sie sogar Gefahr, ausgewiesen zu werden, auch mit Bewilligung C. Wichtig wäre aber auch eine berufliche Qualifizierung dieser Leute, damit ihnen ein Aufstieg möglich ist.

Die Kluft zwischen Leitbildern und realer Politik scheint riesig. Gibt es dennoch Perspektiven, Integration voranzutreiben?

Mahnig: Trotz aller Einwände stellen Leitbilder vielleicht eine Chance dar, dass sich die Migrations- und Integrationsdiskussion versachlicht. Niemand kann sich eine Gesellschaft vorstellen, in der ein immer grösser werdender Teil der Bevölkerung ausgeschlossen bleibt. Vielleicht werden die Leitbilder helfen, der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung klar zu machen, dass ohne die Integration der MigrantInnen die schweizerische Gesellschaft auf lange Sicht nicht wird funktionieren können.

D’Amato: Erstmals seit den Dreissigerjahren haben wir wieder eine polarisierte Politik. Die Frage stellt sich, wie sinnvolle Allianzen entstehen können und wie die Bevölkerung für die Sache der Integration gewonnen werden kann. Hier müssten auch die politischen Eliten mehr Überzeugungsarbeit leisten, falls sie der Ansicht teilen, dass in dieser Frage etwas Wichtiges auf dem Spiel steht. Wichtig wäre auch eine Wandlung der Selbstwahrnehmung. Die Schweiz ist sehr stark auf sich selbst fixiert, trotz der internationalen wirtschaftlichen Verflechtung. Hier hat die Kultur eine wichtige Aufgabe.

Bühlmann: Seit einem Jahrzehnt erlebe ich im Parlament eine permanente Verschärfung der Debatte. Die polemischsten Dinge über Ausländer habe ich im Bundeshaus gehört, die Debatte ist häufig unsachlich, hetzerisch und rassistisch. Das engt den Spielraum in der Asylpolitik, in der Schulpolitik usw. ein. Daneben gibt es die Leitbildprozesse, die ich als Hoffnung erlebe, weil damit die Diskussion in andere Milieus getragen und mit anderen Menschen ein Gegendiskurs aufgebaut werden kann. Gäbe es nur den offiziellen politischen Diskurs, es wäre zum verzweifeln.

Mahnig: Betrachtet man die Entwicklung während der letzten 40 Jahre, so ist die Ausländergesetzgebung liberaler geworden. Die Hoffnung, das werde auch in den nächsten 40 Jahren so geschehen, ist natürlich keine Handlungsperspektive. Aber es ist ein Trost, dass es historisch gesehen nicht ganz so düster aussieht.

1 Hier sei nur die – dank heftiger Kritik im Februar 2000 zurückgezogene – Motion der Stadtzürcher FDP erwähnt, die eine Beschränkung des Ausländeranteils in städtischen Wohnbauten auf 25 Prozent verlangte. zurück

2 In Basel-Stadt und Basel-Land wird zurzeit eine dreijährige Plakat-, Flugblatt- und Inserate-Kampagne gestartet, um die durch die Komplexität der Thematik oft unzureichende oder verzerrte Wahrnehmung mit objektiven Argumenten zu versachlichen. Beispielsweise, dass die AHV ohne Beiträge von Nicht-SchweizerInnen keinen Bestand hätte, oder ein Drittel der ausländischen Bevölkerung in den beiden Basel geboren ist oder seit mindestens 30 Jahren dort lebt. zurück

 

Cécile Bühlmann Nationalrätin der Grünen Luzern
Hans Mahnig  Arbeitet am Schweizerischen Forum für Migrationsstudien SFM in Neuenburg.
Gianni D’Amato Arbeitet am Schweizerischen Forum für Migrationsstudien SFM in Neuenburg.

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